Ob Permakultur, Zukunftsforschung oder Innovationsprozesse: die Vielfalt und damit Neues und Entstehendes findet sich oft an den Rändern – nicht inmitten der Gesellschaft, noch inmitten einer (anderen) Monokultur. An zwei solchen Rändern sehe ich sehr inspirierende Bewegungen mit hohem Potential. Zudem scheinen mir beide eine prinzipielle Ähnlichkeit aufzuweisen. Mit dem Risiko, etwas weit hergeholt zu sein, erlaube ich mir diese Erkundung und Zusammenführung.
Rebecca Swainston, The Stiltwalkers and the Wallpaper
Die erste Bewegung ist die Verkörperung, neudeutsch «embodiment» - also ein Trend hin zum Körper. Er besteht schon seit längerem in den Kognitionswissenschaften. Diverse Forscherinnen haben spätestens in den 70ern überzeugend dargelegt, dass Kognition in Bezug auf einen spezifischen Körper in einer spezifischen Umgebung verstanden werden muss. Es wirkt beinahe so, dass ein Teil der Wissenschaft Descartes Dualismus zwischen beseeltem Geist und maschinellem Körper als Grundannahme bis dahin weiter trugen. Als rational denkende, aufgeklärte Egos haben wir den Körper einfach vergessen – und entdeckten diesen nun allmählich wieder. Der Trend Embodiment hat in den letzten Jahren auch den Bereich der Selbsterkundung und Entfaltung erreicht, sicherlich durch Yoga und ähnliche Praktiken.
Die zweite Bewegung nannte Indy Johar, der brillante Gründer von Dark Matter Labs, bereits vor fünf Jahren die «langweilige Revolution». Es geht darum, dass Systeminnovation in die Bereiche hinein muss, welche nicht so oberflächlich glänzend «innovativ» auftreten wie neue iPhones. Gefragt sind vielmehr neue Prozesse in den Verwaltungen, der Governance und der Regulation – insgesamt in allen Bereichen der Bürokratie. Vereinfachen und Ermöglichen – von Raumplanung, Nutzung von Infrastruktur, Unterstützung von älteren und handicapierten Menschen, Bewilligungen, bis hin zur Buchführung.
Was die beiden Bewegungen im Muster ähnlich scheinen lässt, ist eine Hinwendung zum Grundlegenden, dem beinahe vergessenen Fundament. Der Körper und seine Funktionsweisen ist grundlegend für alles, was wir im Leben so anstellen. Und ganz bestimmt, heisst vertiefte Selbsterkundung (wieder) in Kontakt mit dem Körper zu kommen. Und mir scheint, so sei es auch mit der Zuwendung auf die langweiligen aber grundlegenden Prozesse in unserer Gesellschaft. Ich würde beinahe vorschlagen, die Infrastruktur und die damit verbundenen Prozesse als Körper unserer Gesellschaft zu betrachten – von der Instandhaltung der systemrelevanten Infrastruktur bis zu den abstrakteren, doch nicht weniger einflussreichen, Prozessen der Bürokratie.
Ich behaupte mal, dass wir oft erst dann unserm Körper die Aufmerksamkeit schenken, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ich meine natürlich nicht den Körper als Objekt – als Objekt für all die Eitelkeiten oder als Quelle sinnlicher Lust. Ich meine den Körper als «Intelligenz», als Quelle von Informationen. Normalerweise filtern wir die Signale des Körpers sehr wenig differenziert. Wir verstehen in etwa Hunger und Durst, Schmerz und Lust. Die Übersetzung mag allerdings oft wenig präzise sein. Befriedigen wir mit unserem Essen tatsächlich die Bedürfnisse unseres Körpers? Lesen wir Schmerzen und weitere körperliche Empfindungen wie Müdigkeit, Lustlosigkeit oder Verspannungen, als lokales Problem oder erlauben wir diesem Signal, eine viel ganzheitlichere Botschaft zu vermitteln – etwa bei Entscheidungen in Beziehungen, der Arbeit oder in der Lebensgestaltung? Nehmen wir noch subtilere Signale überhaupt wahr?
Wie beispielsweise Gabor Mate in seinem Buch «wenn der Körper nein sagt» beschreibt, erhalten wir hier eigentlich sehr deutliche Signale und Hinweise, wenn etwas nicht stimmt; nicht bloss schlechte Ernährung oder Verletzungen – sondern bis hin zu Hinweisen auf allfälligen Selbstbetrug in der Lebensführung, ungesunden Beziehungen oder alten Traumata. Bewusste Wahrnehmung unserer eigenen Körperlichkeit ist nicht nur eine spirituelle Praxis der Achtsamkeit, sondern sicher auch eine psychologische, welche zu einer bewussten Selbstwerdung, einer reflektierten Lebensgestaltung kaum erlässlich scheint.
Verkörperung als Thema reicht allerdings noch viel weiter. In den Kognitionswissenschaften haben Forscher wie Mark Johnson, Georg Lakoff, Evan Thompson oder Francisca Varela bereits vor Jahrzenten aufgezeigt, dass das Verstehen von kognitiven Systemen auf den Kontext und die Verkörperung achten muss. Es sind Körper in einer Umwelt, welche wahrnehmen und handeln. Kognitive Systeme sind Akteure in einer Umgebung. Selbst die abstrakteren Sphären wie Sprache oder die Bedeutung von Zeichen entwickelt sich auf dieser Basis von körperlichen Wahrnehmungen und Empfindungen. Wahrnehmen und Handeln ist stets eine Beziehung in einem Kontext.
Nicht allzu überraschend hört man ähnliches, wenn wir Ökolog*innen zuhören – oder Vertreter*innen indigener Traditionen: es geht immer wieder um bewusste Körperlichkeit in Kontext und Beziehung. Abstraktes, linear kausales oder statistisches Verständnis unserer selbst mag für manches hilfreich und spannend sein – doch solches Verstehen ist oft kalt und leblos. Wenn es um Heilung, um Regeneration und um Weiterentwicklung geht, brauchen wir «warme Daten» wie Nora Bateson dies bezeichnet. Daten aus Geschichten von Menschen in Situationen.
Und damit zurück zur Bürokratie. Auch hier fällt uns oft erst auf, was da alles zusammenspielen und funktionieren muss, wenn es mal nicht tut. Gleichzeitig dürfen wir uns ernsthaft fragen, wie sehr nun etwas erkundete Konzepte wie Warme Daten - also Beziehungen und Kontexte überhaupt eine Rolle spielen. Das dem so sein sollte, mag nicht auf den ersten Blick einleuchten. Doch nehmen wir uns eine Stadt oder noch besser, ein Quartier zur Anschauung. Auf einmal wird klarer, dass wir hier mit Menschen, ihren Verhaltensweisen, ihren Aufenthaltsorten und Beschäftigungen, ihren Bedürfnissen und ihrem Wohlbefinden zu tun haben. Welche Räume wie genutzt werden können, wer wo, wie einfach und zu was Zugang hat, wie dicht und sinnstiftend der soziale Austausch stattfindet und vieles mehr ist auch eine Frage der Verwaltung, der Bürokratie und der Regulierung. Wenn wir als Menschen – in unserem Denken, Fühlen und Handeln – verkörperte, eingebettete Wesen sind, dann sollte auch das gesellschaftliche Fundament darauf ausgerichtet sein.
Was hier wünschenswert wäre, ist eine Form von Anpassungsfähigkeit und vielschichtigem Zusammenspiel, wie wir sie aus intakten Ökosystemen kennen. Die Vielfalt in einem Quartier soll Lebendigkeit ermöglichen und fördern – und diese wiederum generiert Wert für das gesamte Quartier. Dass dies kein «jede*r macht einfach nach Lust und Laune» sein kann, scheint klar. Abmachungen brauchen wir schon – diese dürften sich allerdings viel organischer Entwickeln als dies momentan der Fall ist. Und das hat mitunter mit beispielsweise partizipativen Prozessen zu tun – oder mit einer smarteren Infrastruktur. Was dabei im Zentrum steht, ist, vielseitige Bedürfnisse zu sehen und zusammen zu weben, auf die Signale zu achten, welche oft nur im Kontext zu verstehen sind. Es wäre eine viel menschlichere, viel wärmere und organischere Form der Organisation – der Verwaltung, der Bürokratie. Modelle, Vorstellungen und Technologien dies dahingehend zu gestalten sind vorhanden; einige Prototypen auch. Das ist die langweilige Revolution. Und sie verspricht äusserst spannende Entdeckungen.
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