Ich liebe es, wenn durch ausgefallene Gedankengänge auf einmal das einfach Offensichtliche zutage tritt. So ist es mir die letzten Wochen ergangen. Über diverse Kanäle fand ein Begriff Eingang in mein gegenwärtiges Vokabular - die Multi-Spezies Gesellschaft.
Einer dieser Kanäle ist die zuweilen intensive Auseinandersetzung mit Demokratie. In mehreren unserer Projekte und Kollaborationen sind demokratische Prozesse zentral. Das Spektrum ist reichlich weit. In einem dieser Projekte arbeiten wir als DAO – als Dezentrale Autonome Organisation an einem gemeinsamen Ziel. Dabei besteht eine der Herausforderungen, auch kleinere Beträge durch Arbeit und Expertise in sinnvolle Formen der Beteiligung und Mitsprache zu übersetzen. Die Details sind wild und hier nicht wirklich relevant – eines der grundlegenden Prinzipien allerdings schon: wer mitwirkt, soll auch mitbestimmen. In einem anderen Projekt gehen wir der Erweiterung der Demokratie viel genereller und grundlegender nach – auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Unsere Ausgangsfrage lautet: in welchen Räumen wird unsere gemeinsame Zukunft verhandelt? Dabei zeigt sich auch hier, dass obiges Prinzip noch lange nicht Realität ist: es gibt eine «entdemokratisierte Zone» in welcher Besitz und Machtpositionen (in welche mensch nicht gewählt wird) entscheiden – keine demokratischen Prozesse irgendwelcher Art.
Bild von Ziting Wang - Live together: towards multi-species coexistence
«Wer mitwirkt soll auch mitbestimmen» - wie geht das ohne demokratische Stimme? Und wer wirkt denn alles mit? Interessant ist hierzu die Bewegung «Rechte der Natur». Dabei handelt es sich um eine nicht-homogene Bewegung – deren Gemeinsamkeit darin liegt, der Natur Rechte zu verleihen. So hat Ecuador bereits 2008 als erstes Land der Natur bzw. «Pachamama» auf Verfassungsebene Rechte verliehen. Sie wurde damit Rechtsträgerin neben menschlichen Rechtssubjekten. So wirklich eine Stimme haben ist das noch nicht – eher eine Grundlage dafür. In diesen Rechten enthalten ist jenes auf Existenz und Wiederherstellung. Aus gewisser Perspektive erscheinen solche Formulierungen absurd – müssen wir tatsächlich der Natur das Recht auf Existenz rechtlich zugestehen? Nun, wir sind im Anthropozän angelangt: Der Mensch als geologische Kraft bestimmt das Schicksal vieler, wenn nicht aller Ökosysteme. Damit sind auch die Regelwerke der menschlichen Gesellschaft ein «biologischer» Faktor. Zugegeben, die Formulierung wirkt noch immer absurd. Nun, diese Bewegung mahlt noch langsamer als die politischen Mühlen ohnehin. Soweit hat der neue politische Status der Natur in Ecuador kaum wesentliche Auswirkungen gezeigt. Daraus darf noch kein negatives Fazit gezogen werden. Was hier geschieht, ist eigentlich eine kleine kulturelle Revolution – in Schneckentempo. Mitunter wurden in Ecuador mit dieser Verfassungsänderung auch indigene Forderungen anerkannt: mit Sumak Kawsay – auf Deutsch «das gute Leben» ist ein indigenes Prinzip mit in das Verständnis des Gesellschaftsvertrags aufgenommen worden – und damit eine Dekolonialisierung des, natürlich europäischen, Rechtsverständnis. Ein Wegrücken von der Vorstellung von Natur als Besitz, wegrücken von Objekt, hin zu Subjekt. Das Beispiel macht denn auch andernorts Schule – so hat kürzlich Mar Menor als erstes Ökosystem in Europa den Status einer Rechtspersönlichkeit erhalten. Hier werden Grundlagen dafür geschaffen, dass Mitwirkung auch Mitbestimmung wird.
Noch abstrakter befassen sich einige Philosophen mit dem Thema der Koexistenz und Mitbestimmung. Ein reichlich exzentrisches Beispiel ist Timothy Morton – zumindest sind es seine Arbeiten. Dass seine Schriften schwer verdaulich, unheimlich bis bizarr sind, ist wohl nicht nur beabsichtigt, sondern genau richtig. Was unter anderem wirr ist, meint Morton, ist die Art und Weise wie uns unsere Verwobenheit mit all den anderen Subjekten und Akteuren auf diesem Planeten bewusst wird: indem die Zerstörung des angeblich Anderen unsere eigene Existenz bedroht. Dabei würden wir uns – auch dies nur langsam – gewahr, dass unsere Welt auch voller Hyperobjekte sei. «Dinge» so schwer fassbar, weil sie nicht wie Billardkugeln greifbare Objekte darstellen, dass wir sie kaum als Objekte, als existierende Dinge wahrnehmen. Die Erderwärmung, das Internet, ein schwarzes Loch, eine Spezies – schwerlich lokalisierbar und doch sehr real. In Mortons Philosophie ist irgendwie Alles lebendig und auch irgendwie bewusst - Algen, Steine oder sogar Messer und Gabel. Morton ist denn auch kaum der einzige zeitgenössische Philosoph, welcher zum Panpsychismus neigt, der Ansicht Bewusstsein oder Intentionalität sei eine weit verbreitete Eigenschaft unserer Welt. Unsere Welt ist also voller «fremder» Wesen, voller nicht-menschlicher Subjekte und Akteure. Oder andersrum: was ist denn eigentlich genuin «menschlich»? Unser Verdauungssystem nämlich nicht, unsere Darmflora ist voller Mikroorganismen.
Was sich bei all diesen Aktivitäts-Kanälen als Einsicht konsolidiert hat: wir leben eigentlich bereits in einer Multi-Spezies Gesellschaft. Das Leben auf diesem Planeten ist ein dichtes Gewebe vieler verschiedener Spezies – und jegliche Techno-Phantasien mal dahingestellt – es wird noch lange so bleiben: Leben heisst Vielfalt, heisst Biodiversität, heisst viele Spezies hängen gegenseitig voneinander ab und ermöglichen sich so auch die eigene Existenz. Das ist unsere Realität, keine Utopie. Die Frage ist vielmehr, wie sehr wir Menschen uns dessen gewahr sind und wie wir diese Wahrheit auch in die gesellschaftlichen Strukturen, Prozesse und Institutionen giessen mögen. So waren die Frauen auch bereits da, bevor sie ihr wohlverdientes Stimmrecht gnädigerweise erhielten. Und die weitere Parallele: ebenso wie ohne anderer Spezies, hätte es ohne Frauen keine Gesellschaft gegeben.
Die Multi-Spezies Gesellschaft ist also Realität. Diese «biologische» Realität ist weit fundamentaler als die ebenso faktische «gesellschaftliche» Realität von Recht, Gesetz, politischen Strukturen und Institutionen. Das eine ist eine objektive Realität würde ich sogar behaupten. Das andere eine kristallisierte Geschichte, eine filigrane, fragile und bisweilen schöne Idee: Subjekte haben Rechte und niemand steht über dem Gesetz; dieses gilt für alle gleichermassen. Wir tun auch gut daran, alt her gewonnene Einsichten weiter zu kultivieren und die Macht so zu verteilen, dass sie so wenig wie möglich korrumpiert – Gewaltenteilung. Unsere Welt, das Leben auf diesem Planeten wird von vielen Subjekten – mit Bedürfnissen, Interessen, Absichten und Beiträgen zum gemeinsamen Blühen, zur gemeinsamen Lebendigkeit – mitgestaltet und überhaupt erst ermöglicht. Und ein durchaus zu würdigendes Ergebnis der vergangenen Jahrzehnte (wenn nicht weit mehr) ist der Rechtsstaat. Daher sollte es auch nicht absurd erscheinen, diese beiden Realitäten anzugleichen, auszusöhnen; ja sogar synergetisch zu verbünden. Diese Versöhnung ist Teil der Vision der Multi-Spezies Gesellschaft.
Die vielen Fragen welche sich stellen, wenn es darum geht, wie wir das anstellen wollen, sind eine Einladung zur aktiven Erkundung und gesellschaftlichen Innovation. Ich wünsche mir, dass viele dieser Einladung folgen werden.
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