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Verwobenheit

Autorenbild: AMT FÜR ZUKUNFTAMT FÜR ZUKUNFT

Seit dem 3. Oktober sind meine Partnerin und ich auf Achse; wir bereisen Europa ein ganzes Jahr lang mit dem umgebauten Van. «Vanlife» nennt sich das heutzutage. Eine der Herausforderungen halte ich für besonders spannend und will einige Reflektionen teilen, welche sie angestossen hat.



Unser Van ist mit einer starken Batterie und vier Solarpanel ausgestattet – wir mussten noch nie extern Strom beziehen und betreiben damit einen Kühlschrank, eine Induktionskochherd laden Geräte und haben Licht. Wir haben zwei Frischwassertanks mit je 30 Litern Kapazität und einem Filtersystem wonach wir beruhigt das Wasser trinken können. Abwasser fliesst in kleinere Tanks. Wir haben eine Trenntoilette – nicht die Chemiedinger. Flüssiges wird in entsprechende Abflüsse entleert, Festes in die Mülltonne; theoretisch könnte ersteres Dünger sein, letzteres auf den Kompost. Wir kaufen unser Essen in Supermärkten oder lokalen Märkten. Wir fahren mit Diesel – also müssen tanken und produzieren leider reichlich Abgase und Feinstaub. Wir schlafen auf Park- und Stellplätzen oder auf Campings. Bisher hatten wir oft die Gelegenheit kostengünstig auf Stellplätzen, welche meist von den jeweiligen Gemeinden zur Verfügung gestellt werden, zu übernachten.

Was uns bei all dem anders bewusst wird, als es dies im gewohnten Zuhause tut, sind unser Bedarf sowie unsere Hinterlassenschaften - unser In- und Output. Wir sind so etwas wie eine lebendige Einheit und brauchen Zuflüsse von Energie und Ressourcen und generieren wohl oder übel letztendlich Abfälle. Anders als in der Wohnung sind jetzt meistens unsere Aktivitäten nötig und damit eine gewisse Achtsamkeit. Wir sollten die Batterie im Auge behalten und an sonnige Stellen parkieren. Wir brauchen regelmässig Frischwasser. Die Abwassertanks werden erstaunlich schnell voll und wir müssen diese entleeren – einfach in den Busch kippen liegt aus unserer Sicht nicht drin. Ebenso mit den Ausscheidungen und Abfällen aus Verpackung oder Rüstzeug.

An der grundlegenden Unwissenheit hat sich bei uns nur sehr wenig verändert. Nur weil wir momentan nicht einfach die Spülung drücken können, den Wasserhahn öffnen oder das Spaghetti Wasser ausschütten, sind wir nicht auf einmal «bewusst». Wir wissen jetzt zwar, wie viel Wasser wir für Abwasch und Hygiene verbrauchen – nicht aber, wie viel wir bei der gelegentlichen Dusche durchlassen. Durchschnittlich seien dies für 10 Minuten etwa 50 Liter. Wir wissen wie viel Strom wir an einem sonnigen Tag erwarten dürfen – und was Spaghetti kochen mit der Induktionsplatte verbraucht; aber kaum was über die Produktion von Solarpanel oder Batterien. Wir sehen wie viel Ausscheidungen wir hinterlassen – nicht aber was nach der Entsorgung damit geschieht.

Ich glaube nicht, dass wir hier eine Ausnahme darstellen. Das moderne Leben scheint geprägt von dieser Unwissenheit. Wir dürfen sogar von Desinteresse, oder wollten wir ganz böse, von Ignoranz sprechen. Einer strukturellen Ignoranz, tief ins System programmiert – vermutlich teilweise absichtlich. Händlern und Produzenten würde eine transparente Wertschöpfungskette einerseits viel Aufwand bedeuten – und wohl des Öfteren Unangenehmes zutage fördern. Für die Konsumierenden auf der anderen Seite, wird es schnell etwas überwältigend, die ganzen Lebenszyklen zu kennen. Zudem ist es schlicht nicht notwendig Bescheid zu wissen. Die Dinge sind ja «einfach da» - per Knopfdruck, Hahn oder Klick im Internet – das selbst auch einfach da ist. Und dann sind die Dinge auch «einfach weg» - vielleicht den Abfallsack noch auf die Strasse stellen, oder etwas sperrigeres in den Entsorgungshof. Insgesamt: aus den Augen, aus dem Sinn.  

Wir leben in dieser unglaublichen Verfügbarkeit zusammen mit einer strukturellen Ignoranz. Der Überfluss ist da. Was dazu, dafür und dabei geschieht, wissen wir nicht – oder wollen es eben nicht wissen. Denn, wenn wir es wüssten, müssten wir ja wohl oft was ändern. Oder uns aus der unbequemen kognitiven Dissonanz hinaus rechtfertigen, welche dadurch entsteht, zu wissen, dass was wir tun, eigentlich nicht «in Ordnung» ist. Eine weitere Alternative besteht noch darin, ganz drollige moralische Sichtweisen zu kultivieren – im Sinne von: «sei nicht naiv, die Welt ist nun mal so» oder «sonst würde es ein anderer tun».

Die Unwissenheit ist also durchaus brüchig, eine dünne Lackschicht und vielmehr verkrampft aktiv aufrechterhalten denn passiv erduldet. Wir kommen kaum umhin, das eine oder andere zu erfahren; zu vielseitig sind die Hinweise auf die Konsequenzen unseres Überflusses. In den Lebenszyklen vieler Produkte finden sich asoziale Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Umwelt- oder gesundheitliche Schäden – sei es bei der Produktion und/oder der Entsorgung. Das wissen wir - eigentlich. Zudem sollte uns zumindest bewusst sein – ich bin mir nicht sicher, wie sehr es uns tatsächlich ist – dass wir mit auch noch so aktiver Verdrängung kaum Erfolg haben werden. Nicht auf die lange Sicht. Denn hier legen wir uns mit der Realität an. Das ist vielleicht eine leichtfertige und gewagte Behauptung – wer weiss schon wie die Realität aussieht. Mir scheint wir wüssten genug, um festzustellen, dass wir in einer komplexen Verwobenheit leben. Die Dinge hängen auf vielfältigste Weise zusammen. Und wenn dem so ist, betrifft uns angerichteter Schaden früher oder später und in der einen oder anderen Weise auch selbst.

Der Ignoranz wie auch den Schäden wird mit systemischen Ansätzen in praktisch allen Bereichen entgegen getreten. Es werden Zusammenhänge erforscht, aufgeklärt und angewandt, wenn es darum geht, bessere Produkte, Lösungen, Regelwerke oder Geschäftsmodelle zu entwickeln. Genau so finden wir uns langsam in die Entwicklung einer regenerativen Kultur ein – also einer Kultur, welche bereit ist, die Schäden zu heilen und die Ursachen dafür anzugehen.

Gerade für eine solche Kultur, ist es wichtig, noch eine Schicht tiefer zu blicken. Daniel Christian Wahl, der wohl das Standartwerk zu diesem Thema geschrieben hat, nimmt dazu einen Begriff des leider verstorbene Thich Nhat Hanh auf: Inter-Sein. Er meint damit, dass nichts für sich alleine existieren kann – Sein also bedeutet Inter-Sein, in Beziehung sein. So enthalte ein Blatt Papier eine Wolke – denn ohne diese kein Regen, ohne Regen kein Baum, ohne Baum kein Papier. Und so weiter mit der Sonne, dem Holzfäller, dessen Eltern, dem Weizen – der als Brot den Holzfäller ernährt. All dies in einem Blatt Papier enthalten – ohne all dies es nicht existieren würde. Nichts könne isoliert für sich alleine existieren. Oder in alternativen Worten: alles existiert in Verwobenheit, nichts in Isolation.  

Die Sichtweise der Verwobenheit ist sicherlich auch eine wissenschaftlich-realistische. Doch worauf Wahl und Hanh hinaus wollen, ist nicht (nur) ein wissenschaftlicher Punkt. Es ist einer der Versuche, uns ein ökologischeres Bewusstsein zugänglich zu machen. Ein Bewusstsein und Selbstbewusstsein der existentiellen Verwobenheit. In wohl genau diesem Sinn wird das Wort «Menschheit» in vielen afrikanische Sprachen «Ubuntu» genannt – oder sehr ähnlich, dies die südafrikanische Version. Oft übersetzt mit «ich bin weil wir sind». Es gibt keine isolierte Existenz – nur Existenz in Verwobenheit.  

Ein durchaus scharfer Kontrast zu dem im Westen auf die Spitze getriebenen Begriff des Individuums, des isolierten, klar umrissenen Ichs, welches am besten frei – verstanden als unabhängig, also unverwoben – sein soll. Mir scheint, hier liege eine der Wurzeln unseres ökologischen Scheiterns. Losgelöst vom Gewebe des Lebens, unverbunden. Hier ist es kalt und einsam. Als hätten wir ein Loch in unserer Seele, versuchen wir dieses verzweifelt mit ungebändigtem Konsum zu stopfen. Was wir von hier leider nicht sehen können, ist der Reichtum des verbundenen Lebens, den Überfluss an Wesen und Dingen mit denen wir inter-sind.

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